Auf das Kolostrum kommt es an


Sie ist das Lebenselixier für die neugeborenen Ferkel: die Biestmilch. Eine unverzügliche und bedarfsdeckende Aufnahme ist unerlässlich und spielt im Abferkelmanagement eine entscheidene Rolle.

Mit der Geburt gelangen die Ferkel aus der schützenden körperwarmen Umgebung der Gebärmutter in eine völlig neue Umwelt in den Abferkelbuchten. In dieser befinden sich auch Keime, die die Gesundheit der Neugeborenen und damit die Aufzuchtergebnisse beeinflussen können. Wichtigste und anfangs ausschließliche Nahrungsquelle der Saugferkel ist jetzt die Muttermilch. Sie wird zu Recht als Lebenselixier für die Kleinen bezeichnet. Das gilt insbesondere für das Kolostrum (Biestmilch). Wörtlich übersetzt bedeutet Elixier „Heiltrank“. In der Tat enthält der Eiweißanteil der Kolostralmilch, die die Sauen mit der Geburt bilden, die lebenswichtigen Antikörper gegen die meisten in der Umwelt der Saugferkel auftretenden Keime. Das Erstkolostrum (ersten 6 Stunden nach der Geburt) besteht zu über 15 Prozent aus Eiweiß, zu reichlich 5 Prozent aus Fett und zu 3,3 Prozent aus Kohlenhydraten (Laktose = Milchzucker).


Ferkel ohne Schutz geboren

Neben diesen Antikörpern werden die Neugeborenen über die Biestmilch mit mütterlichen Abwehrzellen (B- und T-Lymphozyten), Laktorferrin für die Eisenbildung, Lysozym (ein bakterizid wirkendes Molekül), entzündungshemmenden Zytokinen („Botenstoffe“), freien Fettsäuren und Interferon, einer immunstimulierenden Substanz, versorgt. All dies verleiht den Empfängern Widerstandskraft und schützt sie vor Infektionen. Die frühe Kolostrumaufnahme ist deshalb für die Ferkel essenziell, weil sie infolge der Plazentaschranke beim Schwein ohne mütterliche Antikörper und somit ohne Schutz gegen Infektionen geboren werden. Erhält die hochtragende Sau vor der Geburt Muttertierimpfungen, werden die daraufhin zusätzlich gebildeten Antikörper nur durch die Kolostrum- beziehungsweise regelmäßige Milchaufnahme für die Saugferkel wirksam. In der Praxis weit verbreitet ist zum Beispiel der Einsatz von Kombi-Impfstoffen gegen Colikeime und Clostridien, um die Ferkel vor Durchfällen zu schützen (siehe Beitrag „Durchfällen bei Ferkeln vorbeugen” in agrarheute Schwein, Oktober 2019). Das Kolostrum ist für die Ferkel also die wichtigste Quelle für maternale (mütterliche) Antikörper, die sogenannten Immunglobine (IgG). Nachdem die Neugeborenen mit dem Saugen begonnen haben, wird das Kolostrum schrittweise durch weniger energiereiche Sauenmilch ersetzt, die lokale Antikörper (IgA) enthält. Demgegenüber nimmt der IgG-Gehalt bereits in den ersten 12 Stunden nach Beginn der Laktation schnell ab. Zugleich vermindert sich auch die Fähigkeit der Ferkel zur Resorption der Antikörper.


Je eher, desto besser

Je rascher die Neugeborenen also die Biestmilch erhalten, umso mehr Energie und Immunglobuline nehmen sie auf und desto besser sind ihre Überlebenschancen infolge der hierdurch erlangten passiven Immunisierung. Nach dem Schluss der Darmschranke, der bei den Ferkeln 24 bis 48 Stunden nach der Geburt eintritt, entfällt die IgG-Quelle. Das hat zur Folge, dass Neugeborene, die nicht rechtzeitig Kolostrum erhielten, sich schlechter entwickeln und auch häufiger verlustig gehen. Wie viel Biestmilch je Ferkel verfügbar ist, hängt vor allem von der insgesamt erzeugten Kolostrummenge je Sau sowie von der Wurfgröße ab. In der Biestmilchperiode besteht zwischen beiden Kennwerten noch ein loserer Zusammenhang. Nach dem zweiten Säugetag, wenn die Sau zunehmend „reife“ Milch produziert, ändert sich das: Mit steigender Zahl von Saugferkeln wird auch mehr Milch gebildet.


Sauenmilch verändert sich

Zugleich verändert sich die Milchzusammensetzung (siehe Tabelle „So verändert sich die Sauenmilch“). Wie sich zeigt, ist die Sauenmilch energiereich, darüber hinaus hochkonzentriert, schmackhaft und bekömmlich für die Saugferkel. Sie hat einen hohen Trockensubstanzgehalt und enthält mit Ausnahme des Spurenelements Eisen alle für die Ernährung der Ferkel in der Säugezeit wichtigen Substanzen. Die Verdaulichkeit ihrer Inhaltsstoffe liegt zwischen 89 und 99 Prozent. Für die Zusammensetzung spielt das Laktationsstadium eine entscheidende Rolle. Der Übergang von der Biest- zur reifen Milch erfolgt während der ersten drei Säugetage.Im Rohaschegehalt verbergen sich die Mineralstoffe. Sauenmilch weist recht hohe Gehalte an Calcium (2,4 Prozent) und Phosphor (1,61 Prozent) auf, bezogen auf die Trockensubstanz.
Die Zusammensetzung sowohl der Kolostral- als auch der reifen Milch variiert zwischen den einzelnen Sauen beträchtlich. So kann es bei sehr großen Würfen oder solchen mit unterdurchschnittlicher Milchleistung der Sauen schnell zu Versorgungslücken bei den Saugferkeln kommen. Ebenso schwankt auch die tägliche Kolostrummenge individuell erheblich. Wie die Tabelle „Kolostrummengen der Sauen schwanken stark“ zeigt, reicht die Variationsbreite von 1,9 bis über 5 kg je Sau und Tag.


So viel Kolostrum brauchen Ferkel

Der Kolostrumbedarf eines Ferkels am ersten Lebenstag beträgt mindestens 170 g/kg Körpergewicht (KG), um das Überleben zu sichern. Für die optimale Immunisierung sind allerdings 300 g erforderlich. Nach Angaben verschiedener Autoren lag die durchschnittliche Kolostrumaufnahme zwischen 210 und 370 g/ kg KG. Es ist somit mit einem unterschiedlichen Versorgungsniveau der Neugeborenen zu rechnen. Es lässt sich ein wachsendes Risiko für die Ferkelsterblichkeit bei den sehr großen Würfen ableiten, für die an den kritischen ersten Lebenstagen nicht genügend Kolostrum bereitsteht. Der genannte Zusammenhang lässt sich anhand der Leistungsveränderungen aufzeigen, die sich bei den Ferkelzahlen während des letzten Jahrzehnts in der Sauenhaltung, hier am Beispiel der rheinischen Betriebe, vollzogen haben (siehe Tabelle „So haben sich die Wurfleistungen entwickelt“). Im Durchschnitt haben sich sowohl die Anteile tot geborener Ferkel als auch die Saugferkelverluste erhöht. Der Anstieg war abhängig von der Wurfnummer der Sauen unterschiedlich hoch. Im Weiteren beeinflusste das Betriebsniveau die Höhe der Verluste.


Sehr große Würfe kritisch

Zählt man die Anteile der Totgeborenen und die Ferkelverluste zusammen, dann ergibt sich über die Jahre eine Tendenz zum Anstieg. Sehr große Würfe sind somit kritisch zu bewerten. Nach den vorliegenden Berechnungen bedeutet jedes zusätzliche Neugeborene, dass je Ferkel eine um 22 bis 24 g geringere Kolostrummenge zur Verfügung steht.
Die bei der Geburt schwereren Ferkel können mehr Biestmilch „abzapfen“. Ein um 100 g höheres Geburtsgewicht ermöglicht eine um 26 bis 27 g höhere Aufnahme der begehrten Biestmilch am ersten Lebenstag. Die leichteren und weniger vitalen Wurfgeschwister bekommen also weniger vom Lebenselixier“ ab und haben dadurch schlechtere Startbedingungen. Mit steigender Wurfgröße geht in der Regel auch eine längere Geburtsdauer einher, und der Anteil tot geborener Ferkel kann zunehmen. Auch die Geburtsgewichte und damit verbundene Vitalitätskriterien, die die Aufzuchtrate der Saugferkel mitbestimmen, variieren stärker. Verzögerte Geburten mit langen Austreibungszeiten je Fetus begünstigen zudem Puerperalerkrankungen der Sauen (MMA-Syndrom). Als aussagefähige Grenzwerte für eine gute Vitalität der neugeborenen Ferkel gelten eine Zeit von der Geburt bis zum ersten Gesäugekontakt von 12 bis 20 Minuten sowie eine Zeit bis zur ersten Kolostrumaufnahme von 40 Minuten.


Sauenmanagement optimieren

Für das Management im Abferkelstall lässt sich daraus schlussfolgern: Wichtig ist eine professionelle Geburtenüberwachung und -fürsorge. Für die zu erledigenden Arbeiten im Abferkelstall, nämlich die Ferkel warm „empfangen“, trocken reiben und an das Gesäuge anlegen, gelten die oben genannten Zeiten als Richtschnur.
Bei Geburtsstörungen ist den betroffenen Sauen rechtzeitig zu helfen. Bei den gewachsenen Wurfgrößen bietet die gezielte Ferkelwache die Chance, eine hohe Überlebensrate der Neugeborenen zu sichern. Die „Kunst“ der konditionsorientierten Sauenfütterung sowie ein mit dem bestandsbetreuenden Tierarzt abgestimmtes Gesundheitsmanagement sind ein weiterer Grundpfeiler für optimale Wurfleistungen und niedrige Ferkelverluste. Nicht zuletzt spielt auch die Zitzenzahl der Sauen eine wichtige Rolle, damit die Neugeborenen auch alle an der „Milchbar“ Platz finden. 14 lebend geborene Ferkel erfordern auch 14 funktionsfähige Zitzen, also beiderseits mindestens sieben Stück je Zitzenleiste. Die Zuchtarbeit und Selektion bei den Mutterrassen und deren Hybriden ist darauf auszurichten, der gewachsenen Ferkelzahl ein komfortables Platzangebot am Gesäuge der laktierenden Sauen zu bieten. (br)

Quelle: agrarheute Februar 2020 Text: Johannes Hilgers und Prof. Dr. Uwe Hühn Foto: Bräunig